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UN-Mission kritisiert nach Besuch in China den schlechten Bildungsstandard in Tibet
Die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Bildung hat einen Bericht veröffentlicht, in dem sie das von China für die Bevölkerung bereit gestellte Bildungsangebot bemängelt und insbesondere ihre Bedenken bezüglich der den "Minderheiten" aufgezwungenen Ausbildung äußert, bei der ihnen jegliche religiöse oder sprachliche Identität abgesprochen wird. Des weiteren kritisierte sie die hohe Analphabetismusrate in Tibet.
Katarina Tomasevski, die UN-Sonderberichterstatterin, stattete Peking am 10. September einen zehntägigen Besuch ab - das war erst das dritte Mal, daß ein UN-Berichterstatter nach China eingeladen wurde. Die Chinareisen der Delegation des Sonderberichterstatters für Religions- und Glaubensfreiheit im Jahr 1994 und der UN-Arbeitsgruppe für Willkürliche Verhaftungen 1997 umfaßten ebenfalls Besuche in der TAR.
In ihrem auf der Website des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte veröffentlichten Bericht äußert sich die Sonderberichterstatterin kritisch hinsichtlich der Bildungsmöglichkeiten der "Minderheiten", denn das "den Minoritäten aufoktroyierte Bildungssystem, in dem ihre Kinder zwangsweise bestimmten Bildungsmaßnahmen unterworfen werden, verletzt die Menschenrechte, indem es ihnen die religiöse oder sprachliche Identität verwehrt". Weiter heißt es in dem Bericht, "die meisten ihrer chinesischen Gesprächspartner seien von diesen Bemerkungen völlig überrascht" gewesen. Die Sonderberichterstatterin bezieht sich auf die politischen Elemente im Erziehungsprogramm für die Nicht-Han-Chinesen, die auch als "Minderheitsnationalitäten" oder schlicht "Minoritäten" (chin: shaoshu minzu) bezeichnet werden. Obwohl die Minderheiten lediglich 8% der Gesamtbevölkerung der VR China ausmachen, bewohnen sie zwischen 50 und 60% des chinesischen Staatsgebietes. Dabei handelt es sich vielfach, wie etwa in der TAR und der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang, um hochsensible Grenzgebiete. Deshalb ist es für Peking so wichtig, daß die "Minderheiten" sich mit China identifizieren und gegenüber der VR politisch loyal sind, was sich in den Lehrplänen der Schulen widerspiegelt. Der chinesische Wissenschaftler Yang Wanli schrieb in einem Arbeitspapier zum Bildungswesen in der TAR: "Der Lehrplan für Grundschulen wie auch für weiterführende Schulen muß so ausgerichtet sein, daß er eine Garantie für die Einheit und territoriale Integrität des Landes bietet; er ist nämlich direkt mit der Stabilität im Land verbunden" (Yang Wanli, "The Countermeasures and Particularity of Research on Teaching Materials, Tibet Studies, Vol 58, No 1, 1996).
In ihrem Buch "Education in Tibet: Policy and Practice since 1950" schreibt Catriona Bass über die Bedeutung, die der politischen Rolle der "Minderheitenerziehung" in den letzten Jahren beigemessen wurde: "Der Lehrplan für tibetische Kinder wird gegenwärtig erheblich eingeengt, was schließlich eine regelrechte Erosion des akademischen Studiums zur Folge hat... Obwohl überall in China das Bildungswesen von den Schwankungen des politischen Barometers abhängig ist, wurde in den letzen Jahren in der TAR das Hauptgewicht auf die Erziehung der einheimischen Bevölkerung zu Patrioten und auf die Politisierung der tibetischen Sprache gelegt, weshalb das Bildungswesen in der Region ganz besonders von politischer Einmischung geprägt ist" (Zed Books in Zusammenarbeit mit TIN, 1998).
Die Sonderberichterstatterin ist beunruhigt, welch großes Gewicht im gesamten chinesischen Bildungssystem auf die Ideologie gelegt wird und empfiehlt, daß China sein Rechtssystem nach dem Maßstab seiner internationalen Menschenrechtsverpflichtungen ausrichten soll, damit die Menschen- und Minderheitenrechte künftig in Bildungspolitik, -recht und -praxis integriert werden können. Wie sie schreibt, würde die Einführung von Menschenrechtsunterricht eine inhaltliche Revision der Lehrpläne und Lehrbücher erfordern, wie aus folgendem Beispiel aus einem Lehrbuch für die Zulassungsprüfung zum Universitätsstudium zu ersehen ist, wo als korrekte Antwort "die kommunistische Partei hat im 21. Jahrhundert Hervorragendes geleistet" vorgeschlagen wird. Die spezifische Formulierung derartiger Fragen werde als politisches Barometer benutzt (Zitat aus "Far Eastern Economic Review" vom 30. Januar 2003).
Den Recherchen von Catriona Bass in ihrem Buch "Education in Tibet" zufolge liegt der Bildungsstandard in der TAR niedriger als in jeder anderen Region in China. "Wenn die Investitionen für Bildung weiter auf dem gegenwärtigen Stand bleiben, sind finanzielle Probleme vorprogrammiert, denn im Gegensatz zu Zentralchina, wo die Ein-Kind-Familienpolitik zu einer Abnahme der Zahl schulpflichtiger Kinder geführt hat, steigt diese in der TAR weiterhin an und wird durch die Kinder der in die Region zugezogenen Han-Chinesen noch vermehrt (Education in Tibet: Policy and Practice since 1950).
In ihrem Bericht, welcher auf der 60. Sitzung der UN-Menschenrechtskommission vom 15. März bis zum 23. April 2004 besprochen werden soll, macht die Sonderberichterstatterin auch auf den Mangel an religiöser Toleranz in China aufmerksam und betont, daß Religion allgemein entscheidend für die nationale Identität ist, die Religionserziehung jedoch sowohl in öffentlichen als auch in privaten Bildungsinstitutionen untersagt ist. Der Bericht empfiehlt die Umstellung des Erziehungswesens in China "im Hinblick auf den Erhalt der kulturellen Vielfalt. Ein Bildungssystem, das die Rechte von Minderheiten bejaht, erfordert, daß die Mehrheit den Wert der Sprache und Religion der Minderheiten in allen Lebensbereichen anerkennt. Andernfalls wird Bildung nur als ein Mittel zur Assimilierung betrachtet, was jedoch nicht mit Chinas Verpflichtungen im Hinblick auf die Menschenrechte vereinbar ist".
Insbesondere drückt die Sonderberichterstatterin ihre Besorgnis bezüglich des Überlebens der Sprachen der "Minoritäten" aus und zitiert hier einen Bericht der UNESCO, in dem es heißt, 50% der mehr als 120 in China gesprochenen Sprachen seien gefährdet (Biennium Report, UNESCO Peking, 2001-2, 31. Mai 2003, Seite 46). Weiter äußerte sich die Sonderberichterstatterin besorgt über die mit 39,5% sehr hohe Rate von Analphabeten in Tibet (gemeint ist die TAR); sie stellte die Frage an das Erziehungsministerium, ob einer der Gründe für diesen niedrigen Stand vielleicht sein könnte, daß die Alphabetisierungstests auf Tibetisch erfolgten, während die chinesische Sprache im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben häufiger benutzt wird.
Im vergangenen Jahr wurden neue Regelungen erlassen, in denen die chinesischen Behörden die "Gleichberechtigung" der tibetischen mit der "allgemeinen Nationalsprache" (Han-Chinesisch) betonen und die Verwendung von entweder Tibetisch oder Chinesisch als "allgemeine Verkehrssprache" gestatten. Diese Regelungen, welche am 22. Mai 2002 von der 15. Versammlung des siebten Volkskongresses der TAR verabschiedet wurden, hat "China Daily" als "ersten jemals in China verabschiedeten Regierungserlaß zum Schutz einer ethnischen Sprache" bezeichnet (23. Mai 2002). Da jedoch das amtliche, ökonomische und kulturelle Leben in Tibet von Chinesen dominiert wird, wird die tibetische Sprache zunehmend marginalisiert und durch die von Peking forcierte Entwicklung der westlichen Regionen des Landes zusätzlich bedroht. Während sich durch die gegenwärtigen Bestrebungen zur Förderung der berufsbezogenen und handwerklichen Ausbildung in den tibetischen Gebieten neue Möglichkeiten für eine Verbesserung des Bildungssystems eröffnen, sorgen Chinas strategische Bedenken und die massive Zuwanderung von chinesischen Migranten dafür, daß sich das System weiterhin zu Ungunsten der kulturellen, religiösen und sprachlichen Bedürfnisse der Tibeter auswirkt.
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